Das Modesystem ist antiquiert und kaputt: Interview mit Edgardo Osorio
Italien war wahrscheinlich das am schlimmsten von Covid-19 in Europa betroffene Land – wie haben Sie die Zeit und die Stimmung in Ihrer Heimat erlebt?
Ich konnte die Auswirkungen schon sehr spüren, weil wir zu dieser Zeit gerade unsere neue Kollektion in Mailand präsentiert haben. Von einem Tag auf den anderen mussten wir unsere Betriebe schließen, und alle unsere internationalen Kunden sind aus der Stadt geflüchtet. Aber mit der Zeit ist die Stimmung ins Positive umgeschwungen, und die Stadt blüht wieder auf. Es haben sich auch eine neue Nächstenliebe und ein Sinn für Gemeinschaft entwickelt. Es erinnert mich ein wenig an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und das Aufblühen des Dolce Vita in Italien.
Viele Ihrer Kollegen und auch Trendforscher fordern jetzt radikale Veränderungen. Was ist Ihre Vision für die Modewelt?
Das Modesystem ist antiquiert und kaputt. Es brauchte dringend Veränderungen, und die Corona-Krise hat die Notwendigkeit dieses Wandels beschleunigt. Jetzt bewegen wir uns endlich in die richtige Richtung. Fast Fashion ist untragbar und muss sich ändern. Wahrer Luxus braucht seine Zeit, und es ist gut, dass die Menschen das nun erkennen. Weniger Produkte zu kaufen, aber in besserer Qualität, das ist die Zukunft.
Welche neuen Formen der Präsentation sehen Sie anstelle von Modewochen?
Ich denke, die Zukunft von Modepräsentationen muss integrativer sein und sich mehr um den Endkunden drehen. Sie haben unter anderem die Zeit für die Erstellung digitaler Inhalte genutzt.
Haben uns die sozialen Netzwerke in dieser Krise trotz der Entfernung sogar nähergebracht?
Die Technologie hat eine eigene Welt geschaffen und überwindet Grenzen. Wir können uns jetzt verbinden und unsere Arbeit, Liebe und Leidenschaften mit jedem teilen, der zuhören möchte. Ich will meine Träume, meine Inspirationen und etwas Glück und Positivität mit der Welt teilen.
Einige Experten sagen, dass es das Berufsbild der Influencer entzaubert hat, weil sie nicht über Reisen und glamouröse Partys berichten konnten. Würden Sie dem zustimmen?
Es wäre falsch, hier zu verallgemeinern! Ich denke, mit dieser Pandemie hat sich der Schwerpunkt auf Menschen verlagert, die eine echte Stimme haben, Menschen, die Talent haben, Menschen, die uns inspirieren.
Welche Lehren haben Sie persönlich aus der Krise und dem damit einhergehenden Stillstand gezogen?
Die Isolation war eine gute Gelegenheit, um über das Leben nachzudenken. Sie hat mir bewusst gemacht, dass wir manchmal zu viel drängen, zu schnell rennen und dass es gut ist, mit uns alleine zu sein und neu zu starten.
Foto: Aquazzura