Gesellschaftsportrait: Cindy Sherman
Wie eine Flotte auf dem Ozean ragt die kühne Glaskonstruktion mit seinen zwölf Segeln mit einer Fläche von 13.500 Quadratmetern gen Himmel: Am Rande des Jardin d’Acclimatation hat Architekt Frank Gehry mit dem Le vaisseau de verre, zu deutsch Glasschiff, nicht nur der Familie Arnault und der „Fondation Louis Vuitton“, sondern auch der Kunst ein Denkmal epischen Ausmaßes gesetzt. Das Ziel: „Ein prachtvolles Gefäß zu entwerfen, das die kulturelle Berufung Frankreichs symbolisiert“. An deren weiteren Entwicklung trägt die auf Initiative von Bernard Arnault ins Leben gerufene Stiftung ebenfalls maßgeblich bei. Schließlich wollen die 7.000 Quadratmeter Nutzfläche (davon 3.850 Quadratmeter Museumfläche, die elf Galerien beherbergen) auch sinnstiftend gefüllt werden, und so widmet man hier neben den Dauerausstellungen mit Stücken von Andy Warhol, Jeff Koons oder Daniel Richter den durchaus großzügig bemessenen Raum auch Sonderschauen. Krönender Höhepunkt eben jenes Konzepts ist nunmehr die Retrospektive von Cindy Sherman – Königin der Selbstinszenierung, die das Spiel mit Stereotypen und deren Entfremdung wie keine zweite beherrscht.
Schockmomente
Die US-Amerikanerin dabei als Fotografin zu titulieren würde ihrem Schaffen keineswegs gerecht werden. Zwar hat die in New York aufgewachsene Künstlerin Erzählungen zu Folge schon im zarten Alter von zehn Jahren erste Erfahrungen mit der Kamera gemacht, jedoch geht ihr Schaffen weit über das Bedienen des Auslösers hinaus. Sherman ist in ihren Werken ständig auf der Suche nach gesellschaftsrelevanten und dabei auch durchwegs kritischen The- men, die sie komplex aufarbeitet. Sei es einer ihrer früheren Zyklen, die Serie „History Portraits“, die als Kommentar zur Rolle der Frau
In der Geschichte der Kunst gesehen werden kann oder spätere Arbeiten, wie „Disaster“, bei der mittels Prothesen und Lebensmittelabfällen schockierende Vanitas-Motive bei ihrem Betrachter eine befremdliche Faszination wecken. Auch das konsequente Hinterfragen der menschlichen Sexualität und die überwältigende Bilderflut aus dem Netz sind zentraler Ausgangspunkt von Sherman, der die seltene Gabe der Verknüpfung aus Kritik, Schockmoment und Ästhetik gelingt. Neu hinzugekommen ist auch die Auseinandersetzung mit der digitalen Welt. „Durch meine Kunst suche ich immer nach neuen Ausdrucksformen. Es ist schwierig nach so vielen Jahren Inspiration zu finden. Die Technologie bietet andere Möglichkeiten für die Produktion von Bildern und erlaubt gleichzeitig eine größere Auswahl“, erklärt sie dazu im Dialog mit Suzanne Pagé, künstlerische Direktorin der „Fondation Louis Vuitton“.
Selbst ist die Frau
So unterschiedlich die Themenbereiche auch sein mögen, eines ist den Arbeiten stets gemeinsam: Mit einer einzigen Ausnahme, ihrem ehemaligen Ehemann Michel Auder, steht Sherman fast ausschließlich selbst vor der Kamera und wird so noch mehr Teil der komplexen Arbeit. Während ihre Arbeit auch hierbei laut Pagé jede Systematik vermeidet, findet sich hier doch noch ein weiteres Verbindungsglied, egal ob in historischen Kostümen, in suggerativer Pose oder durch Prothesen entfremdet, die Augenfarbe von Sherman bleibt stets die gleiche. „Das ist keine bewusste Wahl, ich habe mir nur nie die Mühe gemacht farbige Kontaktlinsen zu besorgen, selbst als es möglich wurde“, so Sherman, die in jüngster Vergangenheit lediglich auf Instagram davon abgekommen ist.
Neufindung
Obwohl man die nunmehr 66-Jährige nach Ausstellungen im New Yorker Museum of Modern Art, dem Kunsthaus Zürich und der National Portrait Gallery in London wohl als Routinier bezeichnen kann, hat die kommende Retrospektive gerade im Vergleich zu ihrer letzten Ausstellung in Paris einen besonderen Stellenwert, wie Pagé verrät: „Seitdem hat sich so viel verändert, nicht nur in Paris und in der Welt, sondern einfach in meinem Leben. Ich habe jetzt eine Wohnung und Freunde hier, es ist also das Zusammentreffen von vielen Dingen. Es sind viele neue Werke in der Ausstellung zu sehen, auch solche, die mit sozialen Medien zu tun haben, was damals sicher nicht der Fall war. Außerdem ist die Foundation Louis Vuitton neu und hat sich zu einem der besten Orte der Welt entwickelt, um Kunst zu sehen.“ Jene von Sherman angesprochene Veränderung soll dabei auch dem Besucher zu Teil werden. Die Herausforderung einer solchen Retrospektive besteht für die Künstlerin nämlich darin, sich selbst und die Besucher nicht zu langweilen, nicht in alte Routinen zurückzufallen und etwas zu schaffen, das auch im Gedächtnis nachhallt. Auch dabei steht sie selbst im Zentrum: „Zu Beginn meiner Karriere habe ich Kuratoren meine Werke installieren lassen, über den Katalog entscheiden lassen und so weiter. Aber einmal kam ich am Tag vor einer Vernissage an und mein Werk wurde installiert, als ob es eine Art große Erzählung wäre. Ich habe das Ergebnis so sehr gehasst, dass es mich gelehrt hat, dass ich anwesend sein und mich an der Hängung und der Organisation aller Ausstellungen beteiligen muss solange ich die Energie dazu habe - was nicht immer einfach war. Außerdem glaube ich, dass ich in meiner Arbeit ein Kontrollfreak bin, daher die Tatsache, dass ich allein arbeite.“ Ob Kontrollfreak oder nicht, der Erfolg gibt ihr jedenfalls recht und auch wenn sie selbst auf die Fragen von Pagé nach ihrem Einfluss auf die nächste Generation eher verhalten und mit Bescheidenheit reagiert, darf man sich sicher sein, dass sie ähnlich dem musealen Mekka etwas geschaffen hat, das Zeit, Raum und den Zeitgeist hinter sich lässt und neue Ufer der Kunst erkundet.
Fotos: Cindy Sherman, Todd Eberle, Getty Images/Daniel Zuchnik/WireImage